Best Practice
Zum Abschluss von DataWork wird die Sekundäranalyse anhand eines konkreten Beispiels über die „Bildung und Gesundheitsungleichheit im Alter“ von Leopold & Engelhardt (2011), publiziert in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie analysiert bzw. dekonstruiert. Damit soll einerseits der Aufbau einer empirischen (sekundäranalytischen) Arbeit und andererseits der Konnex aus Forschungsfrage – Theorie – Sekundärdaten aufgezeigt werden. Es empfiehlt sich, den Artikel (siehe Downloadlink im Portrait) davor zu lesen und erst im Anschluss die nachfolgende Aufbereitung. Diese orientiert sich an dem Journalartikel, im Bedarfsfall sind für ein besseres Verständnis weiterführende Erörterungen bzw. Quellen hinzugezogen. Trotzdem ist es das Ziel, den nachfolgenden Text möglichst kurz zu halten, daher wird auf die Darstellung der Ergebnisse - bis auf eine Zusammenfassung - verzichtet. Im Vordergrund stehen die Kapitel 1 bis 3 des Artikels. Mit 30 Seiten Umfang ist der Journalartikel im Vergleich zu einer Qualifikationsarbeit etwas kurz. Der Unterschied liegt hier vor allem darin, dass in Artikeln theoretische Konzepte – das Zielpublikum vor Augen – und Erklärungen zur Methodik meist nur angeschnitten sind, da das Wissen um diese im Wesentlichen vorausgesetzt werden. Quellenangaben in Artikel erfüllen daher nicht nur die Funktion der Nachvollziehbarkeit und argumentatorischen Absicherung, sondern sind auch als Hinweise für die weiterführende Lektüre zu verstehen. Die Struktur – Einleitung, Stand der Forschung mit Ableitung der Forschungsfragen und Hypothesen, Vorstellung des empirischen Forschungsdesigns, Ergebnispräsentation und Abschluss bzw. abschließende Diskussion – sind sowohl bei Journalartikel als auch Qualifikationsarbeiten gleich, bei letzteren erfahren diese einer Ausweitung. Artikel in reputabelen Fachzeitschriften sind daher sinnvolle Anknüpfungspunkte, um sich mit der Struktur wissenschaftlicher Arbeiten vertraut zu machen.
Ausgang des Artikels ist der von Studien konstatierte Unterschied der Gesundheit älterer Menschen entlang der Differenzierungskategorie Bildung. Analysen zeigen, dass diese Unterschiede bei jüngeren Menschen noch nicht bzw. eher gering ausgeprägt sind, bei Personen im Erwachsenenalter hingegen deutlicher aufscheinen. Im höheren Alter sind die Ergebnisse im Vergleich zu Personen in der Erwerbsphase uneinheitlich, in manchen Studien wurde eine weitere Zunahme der Ungleichheit (Divergenz), in anderen eine Abnahme (Konvergenz) oder ein Gleichbleiben (Kontinuität) festgestellt. Kurz: die Ergebnisse, wie sich die gesundheitliche Ungleichheit mit zunehmenden Alter entwickelt, wurde in der Wissenschaft inkonsistent beantwortet. Als Begründung dieser Divergenz führen die Autorinnen unterschiedliche Forschungsdesigns, variierende Gesundheitsindikatoren bzw. Altersgruppen und statistische Verfahren sowie divergierende Untersuchungsräume (Studien aus unterschiedlichen Ländern) bisheriger Arbeiten an. Vor diesem Hintergrund leitet sich die Forschungslücke – „Ziel der vorliegenden Studie ist daher, mit Hilfe eines standardisierten Analyseansatzes vergleichbare Ergebnisse zur bildungsbedingten Entwicklung der körperlichen, der kognitiven und der psychischen Gesundheit im Alter zu erhalten“ – und daraus die Forschungsfragen der Arbeit ab:
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Wie verändert sich die individuelle Gesundheit bei Hoch- und bei Niedriggebildeten im Alter?
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Wie entwickelt sich folglich der Gesundheitsabstand zwischen diesen zwei Gruppen?
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Ab welchem Alter treten nachweisbare Differenzen auf?
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Lassen sich auf den Dimensionen körperlicher, kognitiver und psychischer Gesundheit unterschiedliche Muster beobachten?
Diese Darstellung, welche bereits in der Einleitung zusammengefasst ist, wird in Kapitel 2 – dem Stand der Forschung – der Arbeit nun detaillierter ausgearbeitet und erörtert den Wissenstand über den Zusammenhang von Bildung und gesundheitlicher Ungleichheit – hierzu werden empirische Ergebnisse und theoretische Implikationen rezitiert, welche sich aus der Akkumulations-, Konvergenz und Kontinuitätsthese ableiten. Diese drei Konzeptionen werden dabei nicht nur im Bereich der Gesundheit angewandt, sondern besitzen zentrale Bedeutung, wie sich Ungleichheiten in unterschiedlichen Lebenslagen im Laufe des Alter(n)sprozesses entwickeln (u.a. Kleiner, 2012, S. 132ff.). Aufgrund der Zielrichtung des Artikels werden diese aber nur für den Bereich der Gesundheit thematisiert.
Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildung:
Die AutorInnen argumentieren einerseits, dass Bildung Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten, Arbeitsmarktchancen, finanziellen sowie sozialen Wohlstand hat und andererseits – dies ist mehr eine pragmatische Begründung – auf Basis der Bildung auch nicht erwerbstätige Gruppe (wie eben SeniorInnen) in die Analyse einbezogen werden können (andere Indikatoren zum sozioökonomischen Status wie der Berufsstand wären nur bedingt anwendbar). Zwar wird ein Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit angenommen, dieser ist jedoch nicht eine einfache Relation, sondern über intervenierende Faktoren vermittelt. Auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse werden von den Autorinnen drei zentrale Aspekte angeführt:
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Ökonomische Ressourcen
Argument ist hierbei, dass sich höhere Bildung in finanziellen Vorteilen niederschlägt, welche den Handlungsspielraum von Menschen ausdehnen. Während die Ressourcen die Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge und Kauf von hochwertigen Lebensmitteln erleichtern, können gesundheitsschädliche Faktoren (zumindest teilweise) vermieden werden. Belastungen nehmen mit höheren finanziellen Ressourcen daher eher ab. Von den Autorinnen nicht expliziert, aber aus dem Text ableitbar sind folgende (Arbeits)Hypothesen:-
AH1a: Je höher die Bildung, umso höher sind die finanziellen Ressourcen. (+)
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AH1b: Je höher die finanziellen Ressourcen, umso besser ist die Gesundheit. (+)
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AH2a: Je höher die finanziellen Ressourcen, umso leichter fallen Präventionsmaßnahmen für den Erhalt der Gesundheit. (+)
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AH2b: Je mehr Präventionsmaßnahmen, umso besser ist die Gesundheit. (+)
Auch in Österreich lässt sich der Zusammenhang zwischen höchstem Bildungsabschluss einer Person und dem Einkommen aufzeigen, während sich 38% der Personen mit Pflichtschulabschluss im niedrigsten Einkommensviertel und 12% im höchsten Einkommensviertel befinden, sind es bei Personen mit Universitätsabschluss 15% zu 52% (vgl. Statistik Austria, 2016, S. 35).
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Sozial-psychologische Einflüsse
Die Annahme richtet sich auf die durch Bildung tendenziell vermittelte soziale Position von Menschen, welche mit geringen psychischen Belastungen am Arbeitsplatz sowie mit Unterstützungspotential aus sozialen Netzwerke einer Person im Zusammenhang steht. Letzteres fußt auf der Homogenitätsannahme (vereinfacht: „Gleich und Gleich gesellt sich gerne“) von sozialen Netzwerken (u.a. Otte, 2004) und der Konzeption von sozialem Kapital (u.a. Lin, 1999) über die Statusposition von persönlichen Kontakten (vereinfacht: „Wer mit Ärzt*Innen befreundet ist, kann sich der ärztlichen Betreuung eher sicher sein“). Daraus lässt sich ableiten:-
AH3a: Je höher die Bildung, umso geringer sind psychische Belastungen am Arbeitsplatz. (-)
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AH3b: Je geringer die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, umso besser ist die Gesundheit. (-)
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AH4a: Je höher die Bildung, umso höher ist das soziale Kapital. (+)
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AH4b: Je höher das soziale Kapital, umso besser ist die Gesundheit. (+)
Der Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen und Bildung ist aber nicht wissenschaftlich eindeutig. In einer Studie von Biffl u. a., (2011) wird konstatiert, dass etwa Schlafstörungen bei geringem Qualifikationsniveau zunehmen und die Wahrscheinlichkeit eines Krankenstandes nimmt mit höherem Bildungsstand ab, hingegen steigt mit höherer Bildung der wahrgenommene Zeitdruck. Stressbelastungen sind bipolar ausgeprägt – also häufiger bei niedrigem und hohem Bildungsstand vorzufinden. Jedoch werden höheren Bildungsschichten auch ein höheres Potential an Copingstrategien attestiert. Wie auch bei den anderen (Arbeit)Hypothesen handelt es sich daher um eine probabilistische Aussage (d.h. um eine Wahrscheinlichkeitsaussage). Es wird daher auch Fälle geben, welche nicht mit den Hypothesen übereinstimmen. Vereinfacht gesagt kommt es aber weniger auf den Einzelfall an, sondern, dass sich in der Zielpopulation entlang der Indikatoren ein statistisch signifikanter Unterschied bzw. Tendenz abzeichnet. Dies führt auch zu dem Schluss, dass perfekte Zusammenhänge in der Sozialwissenschaft vorrangig die Ausnahme sind.
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Wissen über die Gesundheit und damit zusammenhängendes Gesundheitsverhalten
Hierfür referieren die Autorinnen hauptsächlich auf empirische Ergebnisse vorangegangener Studien, welche für niedrigere Bildungsschichten ein geringeres Maß an Wissen über Gesundheit und geringeres Wahrnehmungspotential ihrer eigenen Gesundheit sowie ein riskanteres Gesundheitsverhalten (etwa höhere Anteile an Raucher*innen in niedrigen Bildungsschichten) feststellen konnten. Als Arbeitshypothesen lässt sich formulieren:-
AH5a: Je höher die Bildung, umso größer ist das Wissen um die Gesundheit. (+)
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AH5b: Je größer das Wissen um die Gesundheit, umso besser ist die Gesundheit. (+)
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AH6a: Je höher die Bildung, umso geringer sind riskante Gesundheitsverhalten ausgeprägt. (-)
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AH6b: Je geringer das riskante Gesundheitsverhalten, umso besser ist die Gesundheit. (-)
Die benannten (Arbeits)Hypothesen werden in dem Artikel nicht gesondert geprüft, sondern sind zusammen als ein Modell, abgleitet aus Theorien und empirischen Ergebnissen, zu verstehen, welche den Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit erklären soll. Dies ist die inhaltliche Basis, entlang die Relation Bildung-Gesundheit interpretiert wird. Mit diesen Annahmen ist der Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit sicherlich nicht erschöpfend erklärt, so verweisen Leopold & Engelhardt (2011) auf Kohortenunterschiede, welche bspw. auf dem unterschiedlichen Bildungsangebot zur jeweiligen Zeit oder unterschiedlichen strukturellen Bedingungen (etwa Vorsorgesysteme) beruhen. Letztere Aspekte sind bereits gewisse Einschränkungen der Studie (diese können aufgrund der Daten nicht analysiert werden), auf welchen die Autorinnen zum Schluss der Arbeit im Bereich der Limitationen nochmals eingehen.
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Der Entwicklungsverlauf der gesundheitlichen Ungleichheit
Kernstück der Studie ist nun die Frage, inwiefern sich die Niveaus der Ungleichheit für die niedrige und hohe Bildungsschicht im Alterungsprozess entwickeln. Theoretischer Ausgangspunkt, für welchen auch jeweils empirische Ergebnisse sprechen, sind drei in der Sozial-Gerontologie bzw. in der Ungleichheitsforschung parallel existierende Konzepte:
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Akkumulationsthese
Hierbei wird davon ausgegangen, dass sich frühere Vorteile im weiteren Lebensverlauf systemisch vergrößern. Erklärung ist einerseits eine gewisse Pfadabhängigkeit, welche sich aus einem niedrigeren Ausgangswert (schlechter Gesundheit bereits in der Erwerbsphase) und zusätzlich im Alter ergänzenden Effekten (Auswirkungen des Rauchens) zusammensetzt. Die erste, die Forschungsarbeit anleitende Hypothese lautet:-
H1: Je höher das Alter, umso größer sind die gesundheitlichen Unterschiede zwischen den Bildungsschichten.
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Konvergenzthese
Sie gründet sich im Wesentlichen auf Annahmen zu biologischen Prozessen, welche im höheren Alter letztendlich zu einer Angleichung der Gesundheit führen. Argumentiert wird, dass sich der Gesundheitszustand ab einem gewissen Alter verhältnismäßig rasch verschlechtert und dies bei einem zuvor besseren Gesundheitsniveau zu einem drastischeren Abfall führt, als es bei einem zuvor schlechteren Gesundheitsniveau möglich wäre. In der Tendenz kommt es damit zu einer Angleichung. Das Phänomen lässt sich aber auch dadurch begründen, dass Personen mit einem zuvor schlechteren Gesundheitsniveau auch früher streben. Die Angleichung ließe sich daher auf einen sozialen Selektionsprozess („survival of the fittest“) in der unteren Bildungsschicht zurückführen. Mit Paneldaten lässt sich solch eine Selektion berücksichtigen, um zu einer genaueren Prüfung und Klärung der Konvergenzthese zu gelangen:-
H2: Je höher das Alter, umso geringer sind die gesundheitlichen Unterschiede zwischen den Bildungsschichten.
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Kontinuitätshypothese
Faktoren, die soziale Ungleichheit vor dem Renteneintritt beeinflussen, so die Annahmen, wirken auch nach dem Renteneintritt in der gleichen Weise, womit von einer kontinuierlichen Wirkung und damit weder einer substanziellen Vergrößerung noch Verkleinerung der Ungleichheit auszugehen ist. Ein Beispiel ist das österreichische Pensionssystem, welches leistungsorientiert aufgebaut ist. D.h. wer in der Erwerbsphase gut verdient, erhält auch eine relativ hohe Pension im Alter im Gegensatz zu Niedrigverdiener*Innen. Im Bereich kognitiver Gesundheit zeigen Studien, dass der Abbau bei Hochgebildeten ähnlich schnell wie die der Niedriggebildeten verläuft, jedoch aufgrund des besseren Ausgangszustandes auf einem höheren Niveau. Die letzte Hypothese lautet daher:-
H3: Das Ausmaß des gesundheitlichen Unterschiedes zwischen den Bildungsschichten bleibt mit zunehmendem Alter gleich.
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Auch wenn in diesem Artikel die Hypothesen nicht explizit ausformuliert wurden – sie liegen wohl zu sehr auf der Hand –, ist dies für Qualifikationsarbeiten unbedingt zu empfehlen. Die drei extrahierten Hypothesen sind insofern interessant, da sich diese gegenseitig ausschließen. Tatsächlich stellen sie den Konnex von Alternativ- und Nullhypothese dar. H1 behauptet einen positiven Zusammenhang zwischen steigendem Alter und wachsender gesundheitlichen Ungleichheit; der Korrelationskoeffizient p (rho) hat daher ein positives Vorzeichen:
H1A: p > 0
Die Nullhypothese postuliert das Gegenteil bzw. besteht kein oder ein negativer Zusammenhang:
H10: p ≤ 0
Für H1 sind daher H2 und H3 zusammen die Nullhypothese. Gleiches lässt sich jeweils auch aus der Blickrichtung von H2 und H3 formulieren. Folglich könnte daher auf zwei der Hypothesen verzichtet werden, da bereits eine (etwa H1) die beiden anderen (etwa H2 und H3) als Nullhypothese mitführt. In vielerlei Fällen ist solch ein Vorgehen darüber hinaus nicht statthaft. Ein bestimmter Zusammenhang wird auf (theoretischer bzw. empirischer) Basis logisch abgeleitet – der Einbezug der Nullhypothese als weitere Alternativhypothese würde dies konterkarieren und die Formulierung der Hypothese als beliebig erscheinen lassen. In diesem Fall sind die Hypothesen aber Konsequenz aus dem noch inkonsistenten Stand der Forschung und gerade die Frage soll beantwortet werden, welche der drei Konzeptionen nun eher die gesundheitliche Ungleichheit zu beschreiben vermag. Die formulierten Hypothesen werden in Folge der inhaltlich-theoretischen Analyse zugeführt.
Zu Beginn sind drei Punkte hervorzuheben:
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Als abhängige Variable(n) wird die Veränderung der Gesundheitswerte zwischen der ersten und zweiten Welle (Gesundheit 2007 − Gesundheit 2004) definiert.
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Der bildungsbedingte Effekt des Alters auf die gesundheitliche Veränderung wird mittels eines Interaktionseffektes zwischen Alter zum Zeitpunkt 2004 und Bildung in Jahren gemessen.
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Da sich die Analyse auf die Veränderung der Gesundheitswerte von Befragten bezieht, bedarf es Paneldaten mit zumindest zwei Messzeitpunkten. SHARE (siehe DataBase) erfüllt diese Anforderungen und wurde als Datenquelle genutzt.
Drei Begriffe aus den Hypothesen gilt es näher zu bestimmen: Gesundheit, Bildung und Alter. Die inhaltlich-theoretische Analyse fällt in Journalartikel meist sehr verkürzt aus und sollte in Qualifikationsarbeiten einen größeren Umfang einnehmen. Leopold & Engelhardt (2011) erörtern die Ableitung der Dimensionen von Gesundheit bzw. Bildung nicht, wohl auch das Zielpublikum vor Augen, welches mit den Aspekten bzw. dahinterliegenden Argumentationen vertraut sein dürfte. Im Nachfolgenden wird daher das Vorgehen an ein paar Punkten exemplarisch rekonstruiert. Gesundheit wird in der Arbeit in drei Dimensionen aufgeteilt: körperliche, psychische und kognitive Dimension. Erstere wird von den Autorinnen in die Unterdimensionen chronische Erkrankungen, Greifkraft, funktionale Einschränkungen und die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes untergliedert. Die Verortung von funktionalen Einschränkungen und der subjektiven Bewertung unter den Aspekt körperliche Gesundheit erscheint etwas inkonsistent, weil beide zumindest teilweise auch im Zusammenhang mit psychischen und kognitiven Dimensionen stehen. Da die genannten Aspekte letztendlich in dieser Arbeit getrennt voneinander behandelt werden und jeweils als abhängige Variable fungieren, lässt sich an dieser Stelle die Konzeptspezifikation vereinfachen. Gesundheit gliedert sich in folgenden Aspekte:
- Chronische Erkrankungen
- Greifkraft
- Körperliche Mobilitätseinschränkungen (Gehen usw.)
- ADL (Activities of Daily Living – ein Konzept, welches auf die funktionale Dimension referiert)
- IADL (Instrumental Activities of Daily Living – funktionale Dimension, aber die Tätigkeiten sind anspruchsvoller als jene bei ADL)
- Subjektive Gesundheitszustand
- Psychische Gesundheitszustand (entlang depressiver Symptome nach der EURO-D Skala)
- Zeitliche Orientierung
- Nummerische Fähigkeiten
- Gedächtnis
- Kurzzeitgedächtnis
- Sprechgeschwindigkeit
Für all jene ließe sich H1, H2 und H3 gesondert formulieren (alle Dimensionen der Gesundheit bzw. etwas genauer die Veränderung dieser zwischen zwei Messzeitpunkten sind die abhängigen Variablen in dem Artikel); wichtiger ist nun aber Indikatoren für diese zu finden bzw. stellt sich die Frage, ob Daten zur Verfügung stehen. Da es sich bei dem Artikel um das Endprodukt des Forschungsprozesses handelt (wie im vorangegangen Abschnitt vorgestellt), ist es selbstredend, dass die erwähnten Aspekte auch mit Daten aus dem Sekundärsatz gespeist werden können (sonst würden sie nicht benannt werden). Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorinnen womöglich in ihre anfängliche Konzeption mehrere Dimensionen bzw. Indikatoren einbeziehen hätten wollen. Einen Hinweis liefern Leopold & Engelhardt (2011) hierzu: „So wären Paneldaten mit mehr als zwei Wellen von Vorteil, da so auch Aussagen über längerfristige Veränderungen getroffen werden könnten. Vor allem aber wäre es dann möglich, Alters- und Kohorteneffekte besser voneinander zu trennen. Zudem würden es Daten zu den Vermittlern zwischen Bildung und Gesundheit aus einer Lebensverlaufsperspektive ermöglichen, die genauen Mechanismen der Entstehung und Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheit durch die Bildung aufzudecken“.
Chronische Erkrankungen werde über die Anzahl gemessen, wobei in SHARE eine Liste mit Erkrankungen den Befragten vorgelegt wird. Die Befragten sollen jene nennen, welche sie wissentlich haben. Die genannten Erkrankungen werden für den Indikator addiert und ergibt die Summe an chronischen Erkrankungen, an welcher ein/e Befragte/r leidet.
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PH006_ DOCTOR TOLD YOU HAD CONDITIONS
Bitte sehen Sie sich Karte 6 an. Falls Ihnen ein Arzt schon einmal gesagt hat, dass Sie unter einer der dort an geführten Krankheiten leiden, nennen Sie mir bitte die entsprechende Nummer bzw. Nummern.- Herzanfall, einschließlich Herzinfarkt, Koronarthrombose oder eine andere Herzkrankheit einschließlich Herzinsuffizienz
- Bluthochdruck oder Hypertonie
- Hoher Cholesterinspiegel
- Schlaganfall oder Gehirngefäßerkrankung
- Diabetes oder hoher Blutzuckerspiegel
- Chronische Lungenkrankheit wie chronische Bronchitis oder Lungenaufblähung (Emphysem)
- Asthma
- Arthritis, einschließlich Osteoarthritis oder Rheuma
- Osteoporose
- Krebs oder Malignom, auch Leukämie oder Lymphome, ausgenommen jedoch leichtere Formen von Hautkrebs
- Magen-oder Zwölffingerdarmgeschwür, sonstige gutartige Geschwüre des Verdauungstraktes
- Parkinson'sche Krankheit
- Grauer Star
- Oberschenkelhalsbruch
Die Greifkarft wird als ein zentraler Indikator für die körperliche Gesundheit aufgefasst, da sie mit der Stärke anderer Muskelgruppen und daraus resultierend mit der körperlichen Leistungsfähigkeit korreliert. Zudem wird diese als Prädiktor für Behinderungen etwa in der alltäglichen Lebensführung sowie für Mortalitätsrisiken gesehen (Hank u. a. 2009). In SHARE wird diese durch eine Apparatur direkt bei den Befragten gemessen und vom Interviewer in das Datenfile eingetragen. Die subjektive Gesundheit wird in SHARE durch folgendes Item erfragt:
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PH002_ HEALTH IN GENERAL QUESTION
Würden Sie sagen, Ihr Gesundheitszustand ist...- Sehr gut
- Gut
- Mittelmäßig
- Schlecht
- Sehr schlecht
Zusammenfassend werden die Dimensionen der Gesundheit in SHARE einerseits über Items erfragt (im Wesentlichen Selbsteinschätzungen der Befragten) und andere Dimensionen durch kurze Test erschlossen (neben der Greifkraft zählen hierzu etwa die zeitliche Orientierung, Gedächtnistest oder die nummerischen Fähigkeiten). Die funktionale Einschränkung ist in Konzepte zur körperlichen Mobilität (als Teil der ICF) ADL und IADL untergliedert. Hierbei werden modifizierte Versionen der ADL-Skala nach Katz u. a. (1963) und der IADL-Skala nach Lawton und Brody (1969) genutzt. Solche Skalen sind in Surveys gebräuchlich und sind getestete Messverfahren zur Erhebung bestimmter Konstrukte oder Dimensionen. Vereinfacht formuliert haben bereits Katz u. a. (1963) dargelegt, über welche Indikatoren gesundheitliche Einschränkungen im alltäglichen Leben gemessen werden können. Da der Artikel auf solche bewährten Skalen zurückgreift, ist die Kürze der inhaltlich-theoretischen Analyse wenig verwunderlich. Auch bei der psychischen Gesundheit wird eine bewährte Skala (EURO-D) eingesetzt. Insgesamt wird eine sehr große Zahl an Dimensionen der Gesundheit untersucht, welche sich auch teils überschneiden, trotzdem ließe sich bspw. bei der psychischen Gesundheit noch an weitere Erkrankungen denken, die nicht berücksichtigt wurden. Letztendlich haben die Autorinnen möglichst viele Daten von SHARE entsprechend dem Forschungsziel verwertet.
Während das Alter verhältnismäßig leicht zu operationalisieren ist, wird auf den Aspekt der Bildung nur sehr kurz eingegangen. Die Operationalisierung von Bildung ist aber nicht trivial und sollte bei einer Qualifikationsarbeit einer theoretisch-inhaltlichen Analyse unterzogen werden. So ist etwa zwischen Schul- und Bildungsabschlüssen zu unterscheiden. Die Autorinnen umgehen dies, indem sie auf die Anzahl der Bildungsjahre zurückgreifen, welche in SHARE ebenso abgefragt wird. Ungeachtet der möglichen Problematik lässt sich damit die Korrespondenzregel formulieren, dass die Zahl der Bildungsjahre als ein Indikator für die Höhe der Bildung gesehen werden kann. Kurz: je mehr Bildungsjahre, umso höher die Bildung. Solche Korrespondenzregeln ließen sich ebenso überprüfen – auf Basis von SHARE wäre dies durch eine Analyse von Bildungsjahren und Angaben zur höchst abgeschlossenen Schulausbildung durchaus möglich. Abschließend werden das Geschlecht und die Länder, aus welchen die Daten stammen, als Kontrollvariablen in der Arbeit eingeführt. Letztere sind dem Umstand geschuldet, dass – wohl zur Erhöhung des Samples – mehrere Länder in die Analyse einbezogen wurden, aufgrund länderspezifischer Unterschiede (etwa der Gesundheitssysteme) sich aber auch die Gesundheit der Befragten zwischen den Ländern etwas unterscheidet. Die Kontrolle des Geschlechts wird von den Autorinnen durch vorangegangene Ergebnisse begründet, welche Unterschiede in der Gesundheit zwischen Männern und Frauen bereits festgestellt haben.
Leopold & Engelhardt (2011) führen nicht nur an, wie die Begriff operationalisiert wurden, sondern erörtern neben Eingrenzungen der Stichprobe das angewandte statistische Verfahren. Auch wenn beides an dieser Stelle nicht mehr näher erläutert wird, so ist auf die Relevanz solcher Ausführungen zum Zwecke der Nachvollziehbarkeit in wissenschaftlichen Arbeiten hinzuweisen. Erscheint die Erörterung der angewandten Verfahren als selbsterklärend, darf nicht auf ersteren Punkt vergessen werden. Der Ausschluss von bestimmten Personen bzw. Gruppen ist ebenso zu argumentieren, da dies Einfluss auf die Ergebnisse hat.
Die Ergebnisse von Leopold & Engelhardt (2011) zeigen, dass in Betrachtung mehrerer Gesundheitsdimensionen selbst für die Gesundheit von unterschiedlichen Verläufen der Ungleichheit ausgegangen werden kann. Am häufigsten treten die Phänomene Divergenz und Kontinuität auf. Einzig die Entwicklung der Sprachgeschwindigkeit lässt sich der Konvergenzthese zuordne. Letztendlich so scheint es, können auf Basis der Bildung gesundheitliche Ungleichheiten zwar aufgezeigt werden, theoretische und empirische Arbeit muss jedoch noch darin geleistet werden, um die intervenierenden Prozesse zu verstehen, welche diese unterschiedlichen Entwicklungsverläufe bedingen.
Biffl, G., Faustmann, A., Gabriel, D., Leoni, T., Mayrhuber, C., & Rückert, E. (2011). Psychische Belastungen der Arbeit und ihre Folgen. Krems/Wien: AK Wien.
Hank, K., Jürges, H., Schupp, J., & Wagner, G. G. (2009). Isometrische Greifkraft und sozialgerontologische Forschung: Ergebnisse und Analysepotentiale des SHARE und SOEP. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 42(2), 117–126. https://doi.org/10.1007/s00391-008-0537-8
Katz, S., Ford, A. B., Moskowitz, R. W., Jackson, B. A., & Jaffe, M. W. (1963). Studies of Illness in the Aged: The Index of ADL: A Standardized Measure of Biological and Psychosocial Function. JAMA, 185(12), 914. https://doi.org/10.1001/jama.1963.03060120024016
Kleiner, G. (Hrsg.). (2012). Alter(n) bewegt: Perspektiven der sozialen Arbeit auf Lebenslagen und Lebenswelten. Wiesbaden: Springer VS.
Lawton, P. M., & Brody, E. M. (1969). Assessment of Older People: Self-Maintaining and Instrumental Activities of Daily Living. The Gerontologist, 9(3), 179–186. https://doi.org/10.1093/geront/9.3_Part_1.179
Leopold, L., & Engelhardt, H. (2011). Bildung und Gesundheitsungleichheit im Alter: Divergenz, Konvergenz oder Kontinuität?: Eine Längsschnittuntersuchung mit SHARE. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 63(2), 207–236. https://doi.org/10.1007/s11577-011-0133-6
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Otte, G. (2004). Sozialstrukturanalysen mit Lebensstilen Eine Studie zur theoretischen und methodischen Neuorientierung der Lebensstilforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Abgerufen von http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:1111-20120708723
Statistik Austria. (2016). Tabellenband EU-SILC 2015 - Einkommen, Armut und Lebensbedingungen. Wien: Statistik Austria.
V.4.0 - 2021